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Lese-Tipp: " Wie mich der Tod gelehrt hat, im Leben mehr zu riskieren."

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Lese-Tipp: " Wie mich der Tod gelehrt hat, im Leben mehr zu riskieren."

Beitrag von kjh-mov »

Lese-Tipp: " Wie mich der Tod gelehrt hat, im Leben mehr zu riskieren."
von Caroline Brandes, veröffentlicht am 10.11.2019 um 05:30 Uhr

Selten habe ich etwas Anrührendes gelesen, als Saskia Jungnikls Text über den Tod " Wie mich der Tod gelehrt hat, im Leben mehr zu riskieren.".
"Seit ein paar Jahren habe ich ein Ritual in meinem Leben: Einmal am Tag schüttle ich mir selbst die Hand. Ich drücke sie, ich nicke mir selbst verschwörerisch zu, spreche mir Mut zu oder schüttle über mich selbst den Kopf, ich bekräftige oder tröste mich damit. Was eben gerade nötig ist. Ich weiß nicht mehr, wann ich damit angefangen habe, was ich aber weiß ist, wann der Weg dorthin begonnen hat."1
Suizid auf Enke-Art

Jungnikls schreibt:
"Dass jemand von heute auf morgen weg sein kann, hat mich tief verunsichert, doch vor allem stand da noch die Trauer im Vordergrund."2
Ich selbst war knapp 10 Jahre alt, als ich das erste Mal mit erleben musste, dass jemand von heute auf morgen weg sein kann. Mein Großvater Karl hatte sich das Leben genommen. So Enke mäßig. Er hat sich von einem Freund in die Nähe der Gleise bringen und sich dann von einem Zug überfahren lassen. Es hat meine Mutter, meine Oma und die Brüder meiner Mutter und meine Cousine sehr verunsichert.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir von Köln nach Lüneburg zur Beerdigung gefahren sind und meiner zwei Jahre älteren Cousine nichts sagen durften, derweil wir, mein Bruder und ich, über die Umstände zu seinem Tod, informiert gewesen waren. Wir spielten mit ihr auf dem Spielplatz, als sei alles wie immer, derweil unsere Eltern, Onkel, Tanten und unsere Oma Vorbereitungen wegen der Beerdigung trafen.

Am Tag seines Todes war mein jüngerer Onkel gerade volljährig geworden. Mein Opa hatte offensichtlich ein gutes Händchen für Timing.

Der Anlass für den Selbstmord meines Opas war lapidar, zeigt aber auch, wie stolz mein Opa gewesen sein muss. Hierzu muss man aber etwas ausholen.

Opa Karl war wie viele junge Männer Soldat, oder sollen wir besser sagen: Kanonenfutter. Er wurde im Krieg mehrmals verwundet. Er hatte einen Granatsplitter im Kopf, zudem einen Bauchdurchschuss. Durch diese Verletzungen fehlten ihm mehrere Meter Darm. Er soll dann auch in einem Kriegsgefangenenlager längere Zeit auf dem nackten Boden gelegen haben müssen und hierdurch hatte er immer wieder starke Rückenschmerzen. Opa Karl hat sich daher immer wieder in Ameisenhaufen gesetzt oder sich mit Brennnesseln auf den Rücken geschlagen, wenn die Schmerzen unerträglich wurden.

Im Krieg war mein Opa für die Fahrzeuge zuständig. Es gibt Bilder, da sieht man ihn auf einen Motorrad. Er hat viele Fotos von den Fahrzeugen, Panzern und Flugzeugen gemacht.

Als der Krieg vorbei war, wurde er Taxi-Unternehmer.

Wenn die Schmerzen zu viel wurden, soll er ab und an ein Schnäpschen getrunken haben. Das verträgt sich natürlich nicht mit dem Beruf. Am Tag vor seinem Selbstmord ist er in eine Verkehrskontrolle geraten und musste dann zur Wache. Er hat wohl gleich seinen Führerschein abgeben müssen. Er muss dann wohl noch einige Zeit herum geirrt sein, bis er sich von einem "Freund" ein ganzes Stück weiter hat fahren lassen, nahe der Gleise.

Nachtrag:

Heute erfahre ich erstmals, dass mein Opa Karl einen letzten Brief hinterlassen hat, auf dem sogar noch die Abdrücke der Gleisen zu sehen sind. Er schrieb:
"Ich weiß nicht was mit mir los ist. Verzeiht mir."
Es gab nichts zu verzeihen. Das Wissen darum, dass er das dachte, schmerzt.

Sein Taxi, seine Taxilizenz soll auch der Mann gekauft haben, der ihn zu den Gleisen gefahren hat. Es ist schon erschreckend, wie das Leben so spielt.

Hoch hinaus in den Himmel in 2 Sekunden

Offensichtlich gibt es keine Zufälle. So hat sich der beste Freund meines Sohnes auf dem Geburtstag einer meiner liebsten Freundinnen suizidiert. Am Tag seiner Beerdigung sind meine Söhne und der Bruder von Philipp mit mir an den Ort des Geschehens gefahren. Es war ihr Wunsch. Sie wollten verstehen, was in den letzten Minuten seines Lebens geschehen ist und sehen, wo er gestorben ist. Aus ca. 42 Meter Höhe sprang Philipp aus dem Fenster. Es brauchte nur kurze Zeit, bis sein Leben ein bitteres Ende fand und einen verstörten Bruder, eine verstörte Mutter und zwei verstörte Freunde hinterließ. Es war der allerbeste Freund meines älteren Sohnes.

Auch er musste an diesem Tag erleben, das "jemand von heut auf morgen weg sein kann"3.

Unsere letzte Begegnung lag nicht all zuweit davor.

Ich erinnere mich noch, dass ich mit meinen Söhnen in die Nähe von Magdeburg fuhr, weil wir zusammen Geburtstag feiern wollten. Einmal raus und einmal rein. Beide Freunde haben nämlich tags drauf Geburtstag. Timing ist alles, nicht wahr?

Das Wetter war gelinde beschissen, als wir dort hinfuhren. Es regnete wie aus Eimern, so dass die Sicht sehr eingeschränkt war. Ich fuhr daher hinter den gut beleuchteten LKWs hinterher. Langsam, Hauptsache heil ankommen, war meine Devise.

Es war ein sehr schönes Wochenende, was wir zusammen verbrachten. 4 Jungs und ich als Mama. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Philipp uns noch alle umarmte. Das war einer der Momente, der im Gedächtnis blieb.

Im Gedächtnis bleibt auch, wie wir dann ohne ihn am Ort seines Todes in einer Häuserschlucht standen, die im Schatten lag und in der es eiskalt windete, derweil wenige Meter weiter die Sonne schien. Und einige Kilometer weiter unter der Erde nun ein Musikplayer die Lieblingslieder abspielte. Als Philipps Urne beigesetzt wurde, hat sein Bruder den Augenblick genutzt. Gute Musik muss schon sein. Auch wenn man unter der Erde liegt.

Tod eines Helden

Besonders berührt hat mich auch der Tod eines mutmaßlichen Helden, der sich selbst nicht als Held sah, den man als Held ausgab, um augenscheinlich die Öffentlichkeit vom eigentlichen Geschehen abzulenken. So war ich in den letzten Monaten also Beistand eines Mannes, dessen Leben sprichwörtlich vor meinen Augen in den Abgrund gestürzt wurde.

Es war kein Heldentod. Er war immerhin kein Held. Er war ein Mensch, der zu oft an das Gute glaubte, um letztendlich festzustellen, dass man ihn offensichtlich nur ausgenutzt hatte. Als man ihn nicht mehr brauchte, trampelte man auf ihm und auf seine Liebste herum.

Da Timing offensichtlich zum Tod dazu gehört, fand die Beerdigung dieses "Helden" auf meinem Geburtstag statt.

Dein Tod

Timing ist alles. So wurdest auch du, mein Herzensfreund zwischen den Geburtstagen beerdigt. Auch bei dir passt dieser Satz:
"Dass jemand von heute auf morgen weg sein kann, hat mich tief verunsichert, doch vor allem stand da noch die Trauer im Vordergrund."4
Du wolltest am Abend mit mir ein Rumpsteak essen gehen, nachdem du einige Kilos abgenommen hattest. Nun liegen die Reste von dir in einer kleinen Urne. Eingedampft auf das, was dann so übrig bleibt. So schnell und so extrem hättest du nicht abnehmen brauchen. Jedes Kilo an dir habe ich nämlich geliebt.

Jungklid schreibt:
"Wieder war da dieser plötzliche Tod, aber da war auch etwas anderes: große Angst, Panik durch das Erinnern an die Fragilität des Lebens, Sehnsucht und Wut. Ich sage manchmal, sein Tod hat mein Leben in ein Vorher und Nachher geteilt, und das hat er tatsächlich auf viele verschiedene Arten."5

Zu wissen, dass Menschen den Tod eines "Helden" und von dir offensichtlich billigend in Kauf genommen haben, und nicht nur diesen, hat mich zutiefst erschüttert.

Wie Tiere wurden auch weitere Menschen gehetzt, derweil ich und weitere Menschen dabei zuschauen mussten und versuchten, zu helfen, wo wir konnten. Zu akzeptieren, dass man nicht immer helfen kann, ist hierbei die schwerste Erfahrung.

Auch ich habe wie Jungnikl mein Ritual gefunden, um den Schmerz zu ertragen. Ich habe also auch Kraft aus den Ereignissen gezogen. Die vielen Schicksalsschläge haben mich geprägt.

Irgendwann werden wir uns alle wieder sehen. Mal schauen, ob das Timing wieder passt.

Bis dahin gibt es aber noch einiges zu tun.

Fußnoten:
  1. Saskia Jungnikl, Tod, Wie mich der Tod gelehrt hat, im Leben mehr zu riskieren, DATUM.at, Juli/August 2019, https://datum.at/tod/, zuletzt aufgerufen am 10.11.2019
  2. Ebd.
  3. Ebd.
  4. Ebd.
  5. Ebd.
Wortzählung: 1400
"Wer nichts weiß, muss alles glauben."
Marie von Ebner-Eschenbach

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